Beschäftigten wir uns ins gestriger, erster Episode noch mit einer speziellen Kategoriegruppe und allgemeinen, schnell (aber auch oberflächlich) zu bewertenden Form-Kriterien, geht’s heute ans Eingemachte. Inhaltliche Kriterien.
Manche derer sind ein »best try« — ich habe versucht, sie möglichst allgemeingültig zu formulieren. Schimpft ruhig in die Kommentare, wenn ihr anderer Meinung seid. Oder wenn ihr andere Ideen habt!
Inhalt-Kriteriengruppe
Etwas schwieriger festzustellen als die Form-Kriterien sind Qualitätskriterien, die sich auf den Inhalt beziehen. Entgegen von Form-Methoden, wie z.B. der Messung der Episodendauer (asymmetrisches Möven-Modell) oder dem Abzählen genutzter Kraftausdrücke (»Fuck!«-Anteil), müssen hier nämlich Episode / Staffel / Serie bis zum Ende geschaut werden um eine Aussage treffen zu können. Und wenn man erst am Ende von 42, 1008, 50821 Minuten merkt, dass die Show in differierenden Teilen Quatsch war, dann ist das Ärgerungspotenzial sichtungsabhängig mitunter groß.
Ebenfalls ist die Quantifizierung von Qualitätskriterien dieser Gruppe relativ schwer.
Die Nerdskala — Authentizität des verwendeten Computer-Equipments
Ein Wespennest voller Fettnäpfchen bilden Computer in TV-Serien. Die größten Fehler, die eine Serie begehen kann, nach Schlimmheit auf der Nerdskala sortiert (schlimmstes zuerst):
- IPs from Hell — IP-Adressen der Form 521.453.2541.852. Eigentlich gar nicht so wild; das wissen sowieso nur die Supernerds unter den Zuschauern und dann sind’s ja auch nur ein paar Zahlen, was? ABER VERDAMMTE AXT, das ist so schlimm, weil es so simpel ist! Liebe TV-Produktion, IP-Adressen bestehen aus vier Zahlen, wobei jede unter 256 sein muss. TV-Serien, die IP-Adressen from Hell benutzen, wollen cool, credible und am Zahn der Zeit sein, nehmen den Zuschauer aber nicht ernst genug, um auch nur 5 Sekunden Recherche zu betreiben. Großer Nerdskalenfail.
- Superhackers. Serien, die Hacken mit Stricken oder gar Klopapierfalten verwechseln, befinden sich unten auf der Nerdskala. Ist die Dauer eines Hacks eines Firmennetzwerks kleiner als 5 Stunden2, so rutscht die Serie auf der Nerdskala 100/t_Hack hinab. Gleiches gilt für das Knacken von Tür-Code-Schlössern durch das Vorhalten eines lustigen Geräts. Das macht einfach keinen Sinn.
- Betriebssysteme. Zum Beitritt in die Kategorie »gewollt, aber nicht gekonnt« führt häufig der Versuch, ein Nicht-Standard-Betriebssystem3 zu verwenden. Serien erhalten allerdings instantan ein +20-Level-Up auf der Nerd-Skala, wenn sie ein Nicht-Standard-Betriebssystem vernünftig und konsistent verwenden (Beispiele: Fringe, Hawaii Five-0).
- Logoretusche. Entfernt eine Serie das Logo des Computers / Handys — und das ist meistens der Apfel auf der Bildschirmrückseite eines MacBooks — macht sich damit ein wenig lächerlich. Jeder weiß, was hinter dem Aufkleber zu sehen ist. Jedem fällt’s auf. Nicht positiv. Logoabstinenz hat für mich immer den Beigeschmack, am Zahn der Zeit bleiben zu wollen (wie bei den IPs from Hell), aber bloß keine kostenlose Werbung für den Ersteller des Produkts zu machen. Kommerz at its best. Und das mag ich nicht.
Wichtig für Serien, die sich auf dem Feld der hochfrequenten Benutzung von Computer-Equipment bewegen, ist allerdings ein Meta-Attribut der Handlung: Meint die Serie das ernst? Beispiel: Chuck ist von der Prämisse her bereits so over the top, dass dort durchaus ein Tür-Code-Schloss durch Steinauflegen homöopathisch geknackt werden darf. Leverage bemüht sich ebenfalls kein Stück, irgendwie authentisch zu sein.
Haupdarsteller in Love
Ein ungeschriebenes Gesetz der Serienwelt lautet: Besitzt eine Serie in der Hauptdarstellerriege einen weiblichen und einen männlichen Charakter, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie liiert sind. Die Dauer bis dahin sagt viel über die Qualität der Serie aus, ebenso das Handling der Laison (siehe Schondagewesen-Element).
Es geht sogar einen Schritt weiter: Ist das Paar wieder zerbrochen, ist die Re-Liierung von ihnen ein Serien-Ausschlusskriterium4. Es wird der Beigeschmack erweckt, die Autoren haben nichts mehr im kreativen Hut, als Partneroszillation oder gar -freudenhausisierung. Der Grund, warum Gossip Girl (oder andere Inkarnationen der geheimen The-CW-Protoserie) über eine Staffel hinaus bei mir nicht mehr funktionierte.
Ausnahmebeispiel: Fringe.
Ungestopfte Storylöcher
In Zeiten immer monumentaler Serienspektakel mit immer größeren Mysterien und immer dickeren Actionszenen vergessen die Autoren leider immer noch, dass auch das vermeintlich Simpelste, die Story, Sinn ergeben muss. Neben der bereits genannten Storystringenz gibt es da das Kriterium der Anzahl offener Storylöcher.
Ein befriedigendes TV-Erlebnis (und damit eine gute TV-Serie) kann nur dadurch erzeugt werden, dass der Rezipient am Ende einer Serie die Möglichkeit hat, die Story bis ins Detail zu verstehen. Mysterien mögen zur kurz- und mittelfristigen Zufriedenstellung durch Wow!-induzierte Substitutionsbefriedigung beitragen, aber langfristig hilft nur ein Verstehen möglichst vieler Details. Sonst macht die Serie den Anschein von Nicht zu Ende gedacht und Gewollt, nicht gekonnt.
Beispiel: Lost und viele zu früh abgesetzte Serien.
Spin-Anteil des Schondagewesen-Elements5
Neue Dinge erfinden ist aufwändig. Neue Dinge erfinden, die dazu noch gut sind, ist einige Größenordnungen aufwändiger. Verständlich also, dass man sich bei der Produktion einer Serie an Elementen bedient, die sich bereits bewährt haben. Das können kleine Details, wie auch komplette Prämissen sein. Das ist völlig legitim6.
Wichtig für eine gute Serie ist der Spin-Anteil dieser Schondagewesenheit. Wie stark wird Bekanntes verändert, mit üblichen Klischees gebrochen, die Genre- und die Eigen-Prämisse (siehe Prämisse) verändert und erweitert und dadurch neues Interesse geweckt? Das wohl subjektivste Kriterium dieser Liste, da es stark auf dem Seriengrundwissensschatz des einzelnen Rezipienten beruht.
Beispiel: How I Met Your Mother
Charakterstärke und -entwicklung
Auch ein Trend, den man zum Glück immer mehr sieht: Starke Charaktere. Wenn der Hauptcharakter über interessante Züge verfügt (und sei es seine Gemeinheit/Verschlossenheit) kann das viel zur Güte einer Serie beitragen.
Da dieser Umstand oft gegeben ist (und tatsächlich häufig vernünftig umgesetzt ist7 ) sei hier noch das Kriterium der Charakterentwicklung erwähnt. Ein Charakter wird interessanter, wenn der Rezipient an seiner Entwicklung teilnimmt. Dinge, die sich an seiner Persönlichkeit ändern. Dinge, die er im Verlauf der Serie anders sieht.
Prämissenkriterien
Jede Serie besitzt als Alleinstellungs- und Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderer Serien eine gewisse Prämisse. Innerhalb der Prämisse entwickelt sich eine Story.
Über die Pionierhaftigkeit der Prämisse hinaus (siehe Spin-Anteil des Schondagewesen-Elements) gibt es noch mehr Qualitätskriterien die Prämisse betreffend:
- Monozentrie der Prämisse
Die Serie ist um einen zentralen Punkt der Prämisse aufgebaut. Das kann zu einer ganz großartigen Serie führen, oder aber auch schnell großer Quatsch werden. Zwei Gedankenexperimente zu möglichen monozentrischen Storylines:- Dynamische Monozentrie: Das zentrale Ereignis / die zentrale Person (also: die zentrale Prämisse) steht zwar im Mittelpunkt, verfügt aber über hinreichend Dynamik in der zeitlichen Entwicklung um die Geschichte interessant zu gestalten. Autoren nutzen das mühevoll, aber detailreich aufgebaute Monozentrum der Geschichte, bauen Untergeschichten herum (siehe Subprämissenfluktuation) und entwickeln es gleichzeitig intelligent und konsistent weiter.
- Statische Monozentrie: Autoren machen Nichts des oben Erwähnten, sondern Ruhen sich auf ihren tollen Idee aus. Das Monozentrum ist statisch und bald schon zu Ende erzählt. Meist wird das irgendwann durch sinkende Zuschauerzahlen bemerkt und ein Reanimationsversuch gestartet, der klassischer weise in die Hose geht.
Unter den monozentrischen Storys sind im allgemeinen die dynamischen als positiv anzusehen. Es gibt sicherlich Gegenbeispiele, aber als erste Abschätzung soll das genügen.
Positives Beispiel: Fringe, The Good Wife. - Prämissenschildkrötität
Die Prämisse der Serie ist ein Ereignis (/eine Person), das in der Ferne liegt. Durch Geschichtsschlüsselpunkte nähert man sich Episode für Episode dieser Ferne an. Hat man das subjektive Empfinden, dass die Geschichte trotzdem auf der Stelle tritt, nicht aus den Füßen kommt, dann ist dieser Umstand als Prämissenschildkrötität zu bezeichnen. Und schlecht.
Beispiele: Lost (vor den letzten Staffeln), FlashForward, The Event. - Subprämissenfluktuation
Das Kriterium existiert nur bei Serialserien und vereint zwei Dinge: Es existieren Subprämissen und diese ändern sich (ähnlich der Monozentrie, aber nicht identisch). Die Hauptprämisse existiert als stetig vorhandenes, alles überschattendes Element. Von dieser Hauptprämisse motiviert werden Untergeschichten ausgegliedert, die mehr als eine Episode andauern8. Die Subprämisse hat Auswirkungen auf die Hauptprämisse und führt nach Vollendung (meist durch Geschichtsschlüsselpunkte) zu einer nächsten Subprämisse. Auch mehrere Subprämissen können gleichzeitig, mehrschichtig, verfolgt werden, daher diese Namenwahl.
Serien, die die richtige Balance zwischen Haupt- und Subprämissen hinkriegen, sind mir der liebste Kompromiss aus Procedrual und Serial — manchmal sogar besser als reine Serialserien (wenn es sie denn nach dieser Definition der Subprämisse überhaupt noch gibt).
Beispiele: Fringe, Burn Notice (obwohl hier auch etwas Schildkrötität reinkommt). - Geschichtsschlüsselpunkte
Geschichtsschlüsselpunkte sind Punkte innerhalb der Story, die diese merklich und unter Auswirkungen für die Zukunft ändern. Sie schließen Geschichtsbögen ab und sind hinreichend Wow!-ig. Eine gute Serie versteht es auf die Geschichtsschlüsselpunkte hinzuarbeiten und diese dann mit einem lauten Knall zu präsentieren, häufig (und besonders gut) mit einem unerwarteten Twist.
Beispiel: Fringe.
Grand Finale, Intermediate Finale
Geschichten möchten zu Ende erzählt werden. Und wenn eine Serie den Aufwand betreibt, den Zuseher in eine fremde Welt zu befrachten, dann sollte diese Welt auch vernünftig zu Ende erzählt werden. Bei kompletten Serien findet das im großen Finale am Schluss statt, bei Storybögen in Zwischenfinalen, die einen Geschichtsschlüsselpunkt darstellen sollten. Hier kommt alles auf die Inszenierung, das Tempo und die Hinarbeit an. Ein gutes Finale verbindet verschiedene Handlungsstränge, die der Rezipient bis dahin als unabhängig annahm, und lässt sie mit Twists in einigen Wow!-Momenten kulminieren. Die Untergeschichte wird abgeschlossen, kreiert dabei einen neuen, großen Cliffhanger, der in der nächsten Staffel aufgegriffen wird und dort als Anschlusspunkt fungiert.
Obiges gilt für Zwischenfinale; bei einem Serienfinale (dem Grand Finale) sollte es weder Cliffhanger am Ende, noch neue oder alte offene Fragen geben. Am Ende einer Serie besitzt ein Seher alle notwendigen Informationen zum Gesamtverständnis des Seriengeschehens.
Serien, die sich nicht an die Konzepte von Grand und Intermediate Finale halten, sind blöd. Solche, die am Ende ihres Seriendaseins mit halbgaren Antworten den Serienschauer selbst über wichtige Inhalte entscheiden lassen, sind äußerst blöd. Das ist zwar intelligent und echt toll von euch, liebe Autoren, und ihr seid total wunderbare Künstler, aber zum Abschluss möchte ich eine echte Antwort. Kein Weichgespülerkram.
Beispiel für hervorgendes Zwischenfinalisieren: Fringe.
Beispiele für ok-e bis blöde Endfinale: Veronica Mars, Lost.
- Lost. [↩]
- Ein frei erfundener Wert. Ich hab doch keine Ahnung. [↩]
- Und das ist im Serienfall ein 2-Tupel aus Windows und Mac OS X. Linux hat verschwindend geringe Einsätze in TV-Shows. [↩]
- Zumindest, wenn sie innerhalb der nächsten zwei Staffeln stattfindet [↩]
- Alternativtitel, der durch die Antiphysikqualitätskontrolle fiel: Spin-Anteil bei Projektion auf die Schondagewesenen-Ebene. [↩]
- Die Freizeitphilosophen unter den Lesern könnten hier die Natürlichkeit dieser Sache diskutieren. Evolution und so. Ihr wisst schon. [↩]
- Wobei das ein anderes mögliches Problem eröffnet: Wenn sich die Story zu sehr auf den Charakter verlässt und die Story darunter leidet (eine Art monozentrische Prämisse, siehe unten). [↩]
- Sonst wären sie der Fall der Woche, der Proceduralanteil der Serie [↩]